Im Land der Pferde, Jurten und Filzhüte: Kirgistan (19. September – 4. November 2016)

Der freundliche Beamte lässt uns ruck zuck einreisen. Es ist schon dunkel, als wir auf einer flachen Wiese unser Zelt aufbauen.
Am nächsten Tag erreichen wir kurz vor dem Mittag Sary Tash. Dieses Dorf liegt inmitten eines breiten Tales mit herrlicher Kulisse der mächtigen, schneebedeckten Transalai-Kette. Pferde, Ziegen, Schafe und Kühe weiden auf den weiten Feldern. Biegt man nach Osten ab, kommt bald die chinesische Grenze, westwärts erreicht man über einen weiteren Grenzübergang erneut Tadschikistan. In einem Magazin können wir Dollar in Som umtauschen und geraten dank des grossen Angebotes im kleinen Lädeli gleich etwas in Kaufwut.

Mit den restlichen Som gönnen wir uns ein Zmittag im Café gegenüber. Es gibt Manti (mit Fleisch und Zwiebeln gefüllte Teigtaschen), gebratenes Hühnchen und Suppen. Alles schmeckt bestens. Vollgegessen fahren wir weiter nordwärts, steigen in sanften Kurven den Berg hoch. Pamirs Höhentraining sei Dank, erreichen wir ohne grosse Mühe die Passhöhe auf 3550m.ü.M. und denken zurück an unseren ersten Pass in Tadschikistan auf 3200m.ü.M., als uns das Atmen noch schwer gefallen ist. Viele Lastwagen überholen uns, randvoll gefüllt mit Kohle oder Tieren. Diese LKWs verbrennen wohl Rohöl, denn laut brummend tauchen sie uns in dicke, schwarze Abgaswolken ein. Immer wieder bleibt einer stehen. Dann wird die Pet-Flasche geschnappt, bei einem nahen Bach gefüllt und zur Kühlung ausgiebig über dem spukenden Motor verteilt. Wir sind uns den vielen Verkehr gar nicht mehr gewohnt – sehen wir an diesem Tag doch etwa gleich viele Autos wie zuvor im ganzen Pamir! Nach einer kurzen Abfahrt gewinnen wir die verlorene Höhe gleich wieder und stehen schliesslich auf dem Taldyk-Pass auf 3615m.ü.M.

Eigentlich könnten wir dank leicht abfallender Strasse (wir verlieren über 2000 Höhenmeter auf 90km) nun eine gemütliche Fahrt nach Gulcha geniessen. Eigentlich. Aber der Wind macht uns hier leider einen Strich durch die Rechnung. Er bläst uns direkt ins Gesicht und wir müssen ganz schön in die Pedale treten. Endlich setzen wir uns in Gulcha zum Zmittag in ein Café. Das Menü ist altbekannt: Manti oder Suppe. Wir rotieren die Teller, jeder probiert jedes Gericht. Da es das erste Mal seit anfangs Pamir wieder so schön warm ist, gibt’s noch ein Glace zum Dessert. Sämys Abkürzung zurück auf die Hauptstrasse führt uns über eine ziemlich verlotterte, schmale Hängebrücke. Jedes dritte Lättli fehlt oder hat ein Loch. Phu..! Dann beginnen wir mit dem letzten Passaufstieg, finden aber bald einen lauschigen Platz fürs Zelt am Bach. Tobi fühlt sich unwohl und mag nichts essen. Auch mit Sabines Magen steht es nicht zum Besten, aber vielleicht hilft ja etwas zu essen? Nur Sämy fühlt sich pudelwohl und erzählt stolz, was für einen robusten Magen er doch habe… Wir legen uns schlafen. Doch schon bald surrt der Reissverschluss des Zeltes in Höchstgeschwindigkeit und Tobi erbricht das Zmittag. Mitten in der Nacht rennt dann plötzlich auch Sämy aus dem Zelt: Er hat fürchterlichen Durchfall.

Am nächsten Morgen geht’s den Herren wieder bestens, nur Sabine beklagt sich immer noch über ihren Magen, der noch immer mit den Mantis zu kämpfen scheint. Pünktlich zum Zmittag kommen wir auf dem Chirchik-Pass auf 2389m.ü.M. an. Während wir unsere Nudelsuppe schlürfen, findet eine kirgisische Familie gefallen an unseren Velos. Ohne zu zögern wird alles anprobiert, sich aufs Velo geschwungen und bereit sind sie für den Fototermin.
Nun wartet eine lange Abfahrt auf uns. Bis Osh verlieren wir 1300 Höhenmeter. In Tobi’s Windschatten brausen in wir ins Tal. In jedem Dorf stehen unfertige oder sich im Bau befindende Häuser. Die kirgisische Bauart erscheint uns aber robuster als im Nachbarland: Es wird mehrheitlich mit Ziegeln und oft auch zweistöckig gebaut. Am Dach werden schöne, farbige Verzierungen aus Holz angebracht. Der Dachstock besteht meist ebenfalls aus Holz, mit einem herzigen Terrässli. Dieser wird aber selten genutzt und bleibt vorne und hinten offen. Auch um die Fenster sieht die Isolation zum Teil fragwürdig aus und wir stellen uns vor, dass in den kalten Wintermonaten ganz schön viel Mist und Kohle verheizt werden muss! Auch sehr beliebt sind Frachtcontainer, die direkt ans Haus angebaut werden.

Schliesslich erblicken wir das Ortsschild von Osh. Wir schlängeln uns durch den Verkehr und finden mit Umweg über eine Treppe unser Bed & Breakfast. Frisch geduscht, machen wir uns auf zum Cafe California, in der Hoffnung einen guten Burger geniessen zu können. Nach so langer Zeit des Eintopf-Essens ist unsere Vorfreude riesig. Das Interieur ist auf amerikanisch gemacht. Prima. Leider fehlts in der Küche dann aber an Tomaten und Kartoffeln, als Hamburger kommt ein mit Käse überbackenes Hacktätschli und auf die mittelmässig gute Pizza müssen wir ziemlich lange warten. Jänu, Zentralasien ist wohl nicht der beste Ort, um westliches Essen zu finden.

Osh ist mit über 250’000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt Kirgistans. Auf uns wirkt sie jedoch eher wie ein lebhaftes, grosses Dorf. In der Mitte ragt ein Fels, der Sulaman-Too (Thron des Salomo) auf. Es ist ein Pilgerort mit einer kleinen Moschee auf dem «Gipfel» und UNESCO-Kulturerbe. Viele Paare klettern die etlichen Tritte hoch, um um Fruchtbarkeit zu bitten. In Osh leben zu gleichen Teilen Usbeken wie Kirgisen und diverse russische, türkische, tadschikische, … Minderheiten, was immer wieder zu Spannungen insbesondere zwischen Kirgisen und Usbeken führt. So zum Beispiel 1990 während der Auflösung der Sowjetunion oder im Juni 2010 als es ebenfalls zu blutigen Zusammenstössen und anschliessenden Flüchtlingsströmen nach Usbekistan gekommen ist. Wir bekommen davon allerdings nichts mit.

Auf dem Weg zum Bazar gehts durch einen Vergnügungspark: Neben Bahnen, Schiess- und Essbuden im russischen Stil gibts auch lange Tische, an denen die Oscher Herren in Rekordtempo Schach und Backgammon spielen. Wir schauen eine Weile lang zu und sind baff: Das Duo vor uns schaut bei den ersten ca. 8 Zügen gar nicht erst, was das Gegenüber zieht! Wie oft haben sich die beiden wohl schon herausgefordert?
Filzhüte sind hoch im Kurs bei Kirgisen jeglichen Alters. Der typische, ca. 30cm hohe, Weisse ist mit schwarzen Mustern verziert. Diese sind ganz persönlich und lassen auf die Anzahl Kinder, deren Geschlecht, usw. schliessen. Zudem ist er länger als breit und wird in jungen Jahren längs getragen und erst beim Erlangen der Weisheit auf quer gestellt. Heute wird er gerne auch gegen einen etwas moderneren Filz-Baseball-Tschäpper getauscht.
Wir geniessen den Besuch auf dem Bazar. Es sind zig Menschen auf den Beinen und in den schmalen Gängen zwischen den Ständen herrscht ein Gedränge. Man findet hier einfach alles: Von Kleidern und Schuhen, über Schreibwaren, Heimwerkergschmeus, Veloersatzmaterial, Küchengeräte, Waschmaschinen und andere elektronische Artikel und natürlich Esswaren. Wir decken uns ein mit leckerem Dörrobst, frischem Gemüse und Gewürzen. Auch Samsas mit allen möglichen Füllungen sowie gekochte Maiskolben werden angeboten. Auch wenn wir für unseren vegetarischen Freund Martin nach Samsas mit Kartoffelfüllung verlangen, versteckt sich gewiss irgendwo ein Stück Fleisch. Und Fett. Typisch Zentralasien. 😉

Am nächsten Tag kehren wir nochmals auf den Bazar zurück: Tobi braucht Kartons, um sein Velo flugbereit zu machen. Nach vielen «Njet»s werden wir endlich fündig. Und dann ist es soweit und wir müssen Adiö sagen. Die Zeit ist wie im Fluge vergangen, wir haben so viel zusammen erlebt, so viel Wunderschönes gesehen. Am frühen Morgen fährt Tobi zum Flughafen und wir sind wieder alleine. Ein komisches Gefühl. Etwas orientierungslos hängen wir im Hostel rum. Wir wollen Pläne schmieden – eine Alternativroute zu China finden. Gefühlte 1000 Optionen stehen zur Verfügung. Etwas überfordert verschieben wir den Entscheid auf später und verlassen nach einer Woche Osh in Richtung Djalalabad. Es geht auf verkehrsreicher Strasse durch stark besiedelte Gebiete. Alle paar Meter kann man eben geerntete Kürbisse erstehen. Sabines Knie rebelliert schon am Abend des ersten Fahrtages. Wir fahren noch zwei Tage weiter, aber ihre Schmerzen werden immer stärker. Gleichzeitig verschlechtert sich das Wetter und so beschliessen wir, einen Ruhetag einzulegen.

Es regnet wie aus Kübeln. Also verbringen wir den Tag gemütlich im Schlafsack und duellieren uns im Siedler. Am nächsten Morgen strahlt der Himmel tiefblau und hinter den gelben Feldern sind weisse Berggipfel auszumachen. Einfach wunderschön! So macht es Spass, Velo zu fahren. Bald wechselt der Strassenbelag von Asphalt zu Schotter und wir werden von jedem vorbeifahrenden Auto gefragt, wo wir hin wollen. Über den Kaldama-Pass auf 3060m.ü.M. – Das sei nicht möglich! Es liege zu viel Schnee. Wir möchten lieber selber herausfinden, ob das wirklich der Fall ist, mit dem Risiko, alles wieder zurück nach Djalalabad fahren zu müssen. Der Wind bläst uns die ganze Zeit entgegen – immerhin würde sich dieser in Rückenwind verwandeln. 🙂 Am Abend erreichen wir den Fuss des Passes und schlagen unser Zelt am Ufer des Flusses auf. Es stürmt die ganze Nacht so stark, dass es uns fast mitsamt Zelt wegbläst.

Auch am nächsten Tag weckt uns erneut herrlicher Sonnenschein. Wir hoffen, die Sonne möge möglichst viel Schnee weggeschmolzen haben. Keines der überholenden Autos versucht uns heute von unserem Vorhaben abzubringen. Und als uns immer mehr Lastwagen entgegen kommen, sind wir langsam sicher: Wenn die das schaffen, dann schaffen wir das auch! In Serpentinen schlängelt sich die Strasse auf dem Rücken des Berges hoch. Zu unserem Erstaunen ist dieser ungeteerte Weg vom Schnee geräumt worden. Was für ein Glück für uns! Denn die Landschaft wird immer weisser, die Strasse ist zwar nass, aber bis auf wenige Kilometer vor dem Pass schneefrei. Wir zwängen uns an ein paar Lastwagen vorbei, die auf dem Eis-Matsch des letzten Kilometers in der engen Schneegasse steckengeblieben sind und weder vor noch zurück können. Oben werden wir mit einer grandiosen Aussicht belohnt. Sogar die weisse Kette des Pamirs ist weit hinten noch zu erkennen. Auch auf der anderen Seite des Passes kommen wir nicht mehr aus dem Staunen raus. Unglaublich eindrücklich liegt die Landschaft in sanften Hügeln vor uns. Bäche haben darin wie Adern tiefe Kerben gefressen. Die Sonne geht unter und wir versuchen noch etwas Höhe zu verlieren, um der eiskalten Nacht etwas zu entfliehen. Unsere Füsse werden zu Eisblöcken und wir müssen sie anschliessend ganz schön massieren, um sie wieder warm zu bekommen.

Durch steppenartige Landschaft gehts nach Kazarman. Wir begegnen unzähligen Reitern, die ihre Herden geschickt von einem Feld zum nächsten treiben. Und dies – im Gegensatz zu Tadschikistan, wo uns die Behandlung der Tiere sehr brutal vorgekommen ist – ganz ohne Schläge auf Kuhrücken oder Schafshinterteile. Das letzte Stück runter zur Arbeiterstadt Kazarman führt uns auf perfekt geteerter Strasse. Sie befindet sich noch im Bau und wird gerade penibelst genau von einem chinesischen Geomatiker vermessen. Auch die restliche Belegschaft ist chinesisch. Denn: Wichtige Strassen in Kirgistan werden allesamt von der chinesischen Regierung finanziert: So können ihre Lastwagen die chinesischen Exportgüter schnell und bequem in andere zentralasiatische Staaten bringen.

Zur Goldmine Makmal fahren wir am nächsten Tag. Die wenigen Autofahrer sind äusserst zuvorkommend: Alle fragen uns, ob wir nach Djalalabad wollen? Dann müssten wir nämlich umkehren und bei der letzten Abzweigung links! Wollen wir aber nicht – da kommen wir ja her. 🙂 Gut, aber gibts wenigstens ein Selfie mit uns und den Lastwagenfahrern? Na klar!
Es fehlen noch ein paar Höhenmeter bis zum Pass auf 2900m.ü.M. und anschliessend führt uns die Strasse durch eine atemberaubende, einsame Gegend. Die Interaktion mit Kirgisen bleibt minimal. Bei einem Hof wird uns Kumys (gegorene Milch – schmeckt leicht säuerlich, prickelnd und erfrischend) angeboten. Sobald die Leute herausfinden, dass wir kein Russisch sprechen, geben die meisten auf. Schade! Hier wechseln wir ein paar Worte oder besser, Pantomimen. Dann durchfahren wir eine der schönsten Landschaften, die wir je gesehen haben. Wir können uns kaum satt sehen, von den farbigen Hügeln die sich abrupt aus der Ebene erheben, dahinter mächtige Bergketten die im Abendlicht spektakuläre Schatten werfen. Wir zelten inmitten des unglaublich beeindruckenden Panoramas und geniessen jeden Kilometer.

Wir rätseln, was das für Pots sind, die hin und wieder mitten auf den Feldern stehen: Backöfen? Behälter für die Ernte? …? Nein, es sind die Tore des kirgisischen Nationalsports Kok Boru: Zwei Mannschaften mit jeweils vier Reitern versuchen, einen toten Schafskörper (ohne Kopf) beim Vorbeireiten vom Boden aufzuheben, unter die Beine zu klemmen und am Ende des Spielfeldes in eben diese Pots zu werfen. Schaut ziemlich makaber und brachial aus, zumal der Reiter oft beim Erzielen eines Tores direkt vom Pferderücken mitsamt Schafskörper in den Pot springt.

Vereinzelt durchfahren wir kleine Dörfer. Auf den Dächern und in den Innenhöfen trocknen die Heuballen und der Dung für den Winter. Die zum Dorf gehörigen Friedhöfe sehen aus wie grosse Sandkasten mit riesigen Lehm-Burgen als Gräber. Auch Jurten sind beliebte Grabmäler. Obwohl die «richtigen» Jurten leider schon für die Winterpause abgebaut sind, ist dieses Symbol in Kirgistan allgegenwärtig: Als Torbögen vor Dörfern, als Eingangstore, als Verzierung auf Zäunen, auf der Landesflagge, …

Wir wollen unbedingt zum Song Köl, einem See auf 3000m.ü.M, eingekesselt von Bergen. Ab Juni bis ca. mitte Oktober ist er umgeben von Jurten. Viele werden aber nicht von Hirten bewohnt, sondern nur für die Touristen aufgebaut. Die Zufahrtsstrassen führen über hohe Pässe und es wird Schnee vorausgesagt. Da oben in der Einsamkeit eingeschneit zu werden, stellen wir uns eher ungemütlich vor und entscheiden uns, erst mal nach Naryn zu fahren.

Naryn ist äusserst unsehenswert und wir haben Mühe, eine Unterkunft zu finden. Eigentlich sollte die Auswahl an Homestays des Community Based Tourisms – CBT – gross sein, aber die meisten scheinen schon in der Winterpause zu sein. Für 700 Som (ca. 10$) pro Person könnten wir ein Bett inkl. Frühstück haben. Wir diskutieren etwas und können für je 500 Som bleiben. Ein Abendessen für 700 Som/Person ist uns dann aber definitiv zu teuer und als wir den Kilopreis der Waschmaschine sehen (ca. 3$ = 15$ pro Maschine), verstehen wir die Welt nicht mehr. Die ursprüngliche Idee dieses Helvetas-Projektes war, diverse Services für Touristen wie Übernachtungen, Pferdeausflüge und Trekkings mit lokalen Guides anzubieten. Dabei kommt der Ertrag direkt den Einheimischen zu Gute. Dies erscheint uns sinnvoll, aber die Entwicklung gefällt uns irgendwie nicht. Die Preise erscheinen uns willkürlich, abgesprochen und unverhältnismässig hoch. Auch dass nur ein paar Dorfbewohner, die quasi auf der Touristenroute liegen, sowie ausgewählte Schulen oder Seniorenheime davon profitieren und viele andere gar nicht, stört uns etwas. Ein CBT-Homestay erkennt man rasch: Es ist das perfekt verputzte Haus mit glänzendem Eingangstor und neuen Fenstern, inmitten heruntergekommener Nachbarsbuden.

Wir verlassen Naryn am nächsten Tag gleich wieder und starten mit dem Aufstieg zum Dolon Pass. Kurz nach Ottuk übernachten wir am Fluss und geniessen wieder einmal den Luxus eines Zelt-Pausen-Tages, an dem es etwas schneit und regnet. Der nächste Tag empfängt uns dann wieder sonnig und wir erklimmen Höhenmeter um Höhenmeter. Bei der letzten Abzweigung, die zum Song Köl führt, bleiben wir stehen. Sollen wir es doch wagen? Wir entscheiden uns schliesslich dagegen. Kirgistan gefällt uns so gut, wir wollen unbedingt wieder einmal herkommen und dann etwas früher im Jahr. Der Pass auf gut 3000m.ü.M. liegt knapp unterhalb der Schneegrenze und wir fühlen uns in unserer Entscheidung bestätigt. Die Abfahrt ist der absolute Hammer. Wir können uns nicht mehr daran erinnern, wann wir es das letzte Mal auf so guter Strasse sausen lassen konnten. Beide brechen wir unsere Speedrekorde! 😉 Wir kommen zum Issyk Köl, dem zweitgrössten Gebirgssee der Welt und stellen unser Zelt auf einem herzigen Halbinseli auf.

Bald führt uns die Strasse weg vom See und näher an die Berge, vorbei an Weiden und beeindruckenden, bunten Felsformationen. Wieder am See, stellen wir unser Zelt direkt am Sandstrand auf. Es windet und die hohen Wellen geben uns das Gefühl, am Meer zu sein. Vorbei an halb zerfallenen, unfertigen und wüsten Hotelanlagen fahren wir dem Ufer entlang. Der Herbst lässt die Obstbäume orange-rot leuchten und die Pappeln scheinen wie in verschiedene Farbtöpfe getunkt. Dazu die weiss glitzernden Berge im Hintergrund – ein wunderbares Bild. Wir geniessen das prächtige Wetter. Es ist so herrlich warm, dass wir im T-Shirt fahren können. Wir mögen die freundlich zurückhaltenden Kirgisen sehr gerne. Ausser, wenn sie im Auto sitzen. Es wird auf der schmalen Strasse mit kaum Abstand überholt, ungeduldig gehupt und wild mit den Händen gefuchtelt, wenn wir nicht prompt auf den Schotter hüpfen. Wir treffen in Dörfern auf den einen oder anderen Betrunkenen und vermuten auch solche unter den Autofahrern… Auch die Fahrzeuge scheinen oft alt und in schlechtem Zustand. Jedes zweite hat mindestens einen Sprung in der Windschutzscheibe. Und jeden Tag kann man beobachten, wie ein Auto ein anderes abschleppt.

Gerne möchten wir von Karakol aus in den Bergen etwas wandern. Doch schon auf dem Weg dahin beginnt es zu schneien. Das Wetter zeigt sich in den Tagen nach unserer Ankunft nicht von seiner besten Seite und so faulenzen wir im fast leeren Hostel. Karakol ist ein angenehmes, kleines Städtchen. Das Sightseeing beschränkt sich auf den Besuch der orthodoxen Kirche aus Holz und des Container-Bazars. Es ist eisig kalt draussen und wir geniessen es auszuschlafen, dank Netflix die ersten Filme seit 8 Monaten zu schauen und es gemütlich zu nehmen. So gibt es auch seit Buchara den ersten Cappuccino mit feinem Kuchen im «Kaffee Karakol».

Als wir beschliessen weiterzufahren, schneit es dicke Flocken vom Himmel. Also verschieben wir die Abfahrt auf zwei Tage später, wo uns die wärmende Sonne begrüsst. Die Strasse ist stellenweise eisig, aber die Fahrt durch die verschneite Landschaft wunderschön. Übernachten dürfen wir bei Kuban’s Eltern. Der gut englisch-sprechende Warmshowers-Host gibt uns einen Einblick in sein Leben als Apfelbauer. Wieviele Obstbäume er denn habe, wollen wir wissen. Er habe nur ein paar im Garten. Ok, was heisst denn «ein paar»? Er meint, er habe ca. 500 Stück und sein Vater zudem um die 1500. Aha, das sind also «ein paar» Bäume im Garten! 🙂 Es stellt sich heraus, dass sie jährlich ca. 25 Tonnen Äpfel verkaufen und dies ihre Haupteinnahmequelle darstellt. Die Äpfel werden an die Händler auf dem Markt verkauft und ein Teil nach Kasachstan exportiert. Auch Bienenstöcke hat der Vater und wir kaufen der Familie gleich ein Pet-Fläschli Honig ab.
Wir werden fein bekocht und es gibt kaum einen Gang ohne Fleisch. Sogar die Suppe, die zum Frühstück serviert wird, besteht hauptsächlich aus Fleisch und Fett, ganz wenig Kartoffelstückli hats noch drin. Dies ist die bisher grösste kulinarische Herausforderung für Sabine… Der Inhaber des Hostels in Karakol hat uns noch erzählt, er kaufe für sich alleine bestimmt 1kg Fleisch pro Woche. Dies scheint wohl eher die Regel als Ausnahme in Kirgistan zu sein.

Bevor wir starten, heisst es Fototermin: Wir kriegen traditionelle kirgisische Hüte aufgesetzt und auch die Eltern von Kuban werfen sich hübsche Umhänge um. Dann führen wir unsere Seerundfahrt fort: Der Blick über das Wasser mit den weissen Bergen im Hintergrund ist atemberaubend. Uns fällt auf, dass wir auf dieser Seeseite Dörfer durchfahren, in denen russisch-aussehende Menschen die grosse Mehrheit darstellen. Vieles ist dann auch in Russisch angeschrieben. Kuban hat uns erzählt, dass hier z.T. in ganzen Dörfern kein Kirgisisch, sondern nur Russisch gesprochen wird. Nach dem Mittag ist der Schnee bereits weggeschmolzen und wir zelten abends in Cholpon Ata am Strand gleich neben dem riesigen Stadion, welches für die World Nomad Games gebaut worden ist. Kirgistan ist dabei natürlich Kok Boru-Weltmeister geworden!

Das Wetter bleibt trocken, ein Ferienresort reiht sich ans nächste und so versuchen wir uns vor Langeweile den Sommer hier am Ufer des Issyk Köl vorzustellen: Die trostlos ausschauenden Bars voller betrunkener Russen, Kirgisen und Kasachen, am Strand reiht sich ein weisser Körper an den anderen, die Strassen sind – trotz internationalen Flughafens (!) – verstopft, … Unsere Phantasie malt keinen romantischen Ferienort aus dieser Gegend. Nach dem Zmittag hält plötzlich ein Auto vor uns, die Türen schwingen auf und Lucie und Pierre springen heraus. Wow! Was für eine Überraschung!!! Wir haben das französische Tourenfahrer-Paar im Iran kennengelernt und sind in Kontakt geblieben, um uns irgendwo wieder zu treffen. Aber dass sie uns der Uferstrasse «hinterher-stöppeln», hätten wir nicht erwartet. Umso schöner ist die spontane Pause. Wir setzen uns an den Strassenrand, trinken Tee und erzählen, was wir seit unserem letzten Zusammentreffen alles so erlebt haben. Die Zeit reicht natürlich nicht, aber wir wollen uns in Almaty nochmals treffen und das erste gemeinsame Bier trinken. 😉 Kurz nach der Verabschiedung hält ein anderes Auto vor uns und streckt uns jeweils zwei Äpfel entgegen. Mmmmmh, die sind einfach köstlich hier! Wir finden einen idyllischen Platz fürs Zelt abgelegen am See und geniessen die Einsamkeit und Ruhe. Dies allerdings nicht lange: Um 10 Uhr nachts hält plötzlich ein Auto neben uns. Neugierig spähen wir aus dem Zelt. Gerade wird ein Fischerboot ins Wasser gelassen. Nach einer Stunde sind die Fischer zurück und verschwinden wieder. Es ist Laichzeit und Fischen deshalb eigentlich verboten. Das scheint hier niemanden zu kümmern. Denn am Morgen in der Früh erleben wir nochmals die selbe Geschichte, gleich zwei Fischerboote versuchen ihr Glück.

Wir verlassen den See und kaufen am Strassenrand eine geräucherte Forelle fürs Zmittag. In der Ferne erblicken wir zwei langsam näher kommende Punkte. Velofahrer! Die ersten seit Osch – seit fast einem Monat! Wir tauschen uns noch keine 5′ aus, als ein Büssli zu uns fährt, mit Velos auf dem Dach. Linda ist letztes Jahr mit dem Velo nach Asien, Australien und Neuseeland gefahren und nun mit einem Freund motorisiert auf dem Heimweg. So finden sich auf einen Schlag sechs Velofahrer am Strassenrand! Auf den 200km bis Bishkek verlieren wir über 1000 Höhenmeter und wir liebäugeln damit, schon morgen Abend anzukommen. Der Rückenwind trägt Seines dazu bei, dass wir auf der mässig steilen Strasse durch ein enges Tal ohne Aufwand locki flocki mit über 30km/h unterwegs sind. So gefällts uns! 🙂 Doch nach 20km ist der Spass vorbei: Die Strasse dreht ab und wir kämpfen uns durch den Gegenwind. Die kommenden 20km sind unglaublich streng und wir strampeln bis es dunkel wird.

Am nächsten Morgen steht der Wind zum Glück wieder auf unserer Seite. Das Tal wird breiter, es wird Ackerbau betrieben und die Bevölkerungsdichte nimmt mit jedem Kilometer zu. Weil’s so gut läuft und das Wetter so schön ist, entscheiden wir uns, in Tokmok einen kleinen Umweg einzulegen und nach Burana zu fahren. Dort steht eines der ältesten Minarette Zentralasiens. Nach den Besuchen in Buchara und Samarkand nichts sonderlich beeindruckendes, aber ein netter Ort für die Zmittagspause. Es sind noch zu viele Kilometer bis in die Hauptstadt für heute Nachmittag, drum nehmen wirs gemütlich und erspähen ein Waldstück als idealer Übernachtungsort. Keine zwei Minuten zwischen den Bäumen, kommt ein Mann auf uns zu. Ihm gehöre dieser Wald hier, zeigt er uns. Wir erklären, dass wir hier gerne unser Zelt aufstellen würden, ob das möglich sei? «Njet». Viel zu gefährlich. Hier würden Gefahren wie Betrunkene, Drogendealer, böse Hunde und anderes auf uns lauern. Wir sollen mitkommen, da hinten sei sein Haus. Wir sind etwas unschlüssig, geben dem Herrn dann zu verstehen, dass wir noch etwas weiter fahren wollen. Er meint, die Situation sei auch auf den nächsten Kilometern nicht besser, wir sollen mit in sein Haus kommen. «Horoscho», Ablehnen scheint unmöglich. Kurz später sitzen wir schweigend mit Ehefrau Norgul in der Küche beim Tee und schaffen es nicht, ein Gespräch aufzubauen. Als der Herr des Hauses dann heimkommt, kommts zu einer lebhaften Diskussion. Er ist ein wahres Talent, was Pantomime angeht! Wir geniessen feinen Plov (als Gast wird uns so viel Güggeli geschöpft, dass fast nicht genug für alle übrig ist) und schauen anschliessend das Video von Tochter’s Hochzeit. Es wird uns erklärt, wer mit wem wie verwandt ist, aber wir schaffen es nicht, bei diesen 600 Gästen einen Überblick zu kriegen. Spannend, einen solchen Einblick zu erhalten, aber nach ca. zwei Stunden Feier gucken, werden wir müde. Wir trauen uns nicht, etwas zu sagen. Denn die Familie scheint es ausserordentlich zu geniessen, die Hochzeit nochmals zu erleben. So nicken wir brav, als nach der ersten DVD gefragt wird, ob wir uns auch die zweite noch anschauen wollen. Nach Mitternacht wird dann (endlich ;-)) auch die Familie müde und wir beginnen, Fotos zu schiessen. Etwas darf dabei natürlich nicht fehlen: Die Touristen in traditionelle kirgisische Kleidung zu stecken. 🙂 Einen typischen hohen Filzhut kriegt Sämy dann prompt geschenkt! Die 6-jährige Medina übergibt Sabine ein herziges Armketteli als Andenken. Und zu guter Letzt, lässt uns das Paar in ihrem Bett schlafen, während sich die ganze Familie in der Stube auf den Boden legt.

Am Mittag des nächsten Tages erreichen wir das Haus unserers Gastgebers in Bishkek. Es ist ein wahres Paradies für Velofahrer: Mit Werkstatt, grossem Garten und den super hilfsbereiten Gastgebern Angie und Nathan. Letzterer nimmt uns sogar mit in die Kletterhalle, was uns in den nächsten Tagen Ganzkörper-Muskelkater beschert. Mit Ausnahme der Beine, natürlich! 😉 Um immerhin etwas von Bishkek zu sehen, spazieren wir mit Rachael und Nico – einem britischen Velofahrer-Paar, die wir aus Khorog kennen – bei spätsommerlichen Temperaturen zum Ala-too-Platz und durch die umliegenden Parks. Und wir buchen unseren Flug: Wir haben uns entschieden, erst nächsten Frühling in Nepal wandern zu gehen. Mit einem Flug nach Bangkok können wir den Winter hinter uns lassen und gemütlich durch Thailand, Myanmar und via Indien nach Nepal fahren.

Da wir mit Lucie und Pierre einen Tag in Almaty verbringen wollen, fahren wir bald schon weiter und passieren die Grenze. Ein Land, mit so netten Leuten und atemberaubenden Landschaften: Auch nach über 6 Wochen in Kirgistan haben wir noch nicht genug und es steht weit oben auf unserer «unbedingt zurückkomm-Länderliste».

2 thoughts on “Im Land der Pferde, Jurten und Filzhüte: Kirgistan (19. September – 4. November 2016)”

  1. hallo sabine und sämi,

    herzlichen dank für den tollen und interessanten bericht.
    habe ich das richtig verstanden.ihr bleibt bis im frühling.(heisst das märz/april)?
    freue mich auf den nächsten bericht.
    viel glück.
    yvonne

Schreiben Sie einen Kommentar zu Ute Bergner Antworten abbrechen

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.