Im Schnellzug durch die Jahreszeiten: China, Teil I (13. März – 2. April 2017)

Nervös betreten wir das grosse Zollgebäude. Seit wir das Visum beantragt haben, ist die Vorfreude auf China immer grösser geworden. So viel Tolles haben wir von anderen Reisenden gehört und doch wissen wir so gut wie gar nicht, was uns erwartet.
Genauestens werden unsere Pässe unter die Lupe genommen. Bei Sabines Iran-Visum bleibt der Beamte hängen und holt den Kollegen zur Hilfe. Der Hijab auf dem Foto und die arabische Schrift irritieren. Es wird angeregt diskutiert, der Pass wird noch und nochmal durchgeblättert, bis der Beamte mit den meisten Sternen auf der Schulter irgendwann meint, man soll uns doch jetzt endlich den Stempel in den Pass drücken. Ohne Gepäck-Check sind wir bald wieder draussen, sitzen auf unseren Velos und fahren in Yunnan, der südwestlichsten Provinz Chinas, ein.

Nur wenige Meter in China und wir fühlen uns in einer anderen Welt: Breite Strassen mit weiten Trottoirs sind mit Menschen gefüllt, rote Lampions zieren Strassenlaternen und werden vor Restaurants aufgehängt, Autos hupen um die Wette und hunderte Schilder – eins über dem anderen an Hausfassaden oder Leuchtschriften in Schaufenstern – werben mit für uns unverständlichen Hieroglyphen. Es ist laut, belebt und bunt.

Eigentlich ist Fahrradfahren auf chinesischen Autobahnen verboten. Doch da die Mautstation – da wo die Kontrollen gemacht werden – noch nicht steht, rollen wir die ersten Kilometer auf bestem Asphalt. Der Verkehr ist mässig, die Nebenstrasse ungeteert und hügelig. Dann nehmen die Autos und Lastwagen aber zu und in den unbelüfteten Tunnels wird Luft und Platz knapp. Also verlassen wir nach dem Mittag den Highway und wechseln auf die Nebenstrasse. Hier ist der Untergrund nun niegelnagelneu; der Asphalt ist klebrig und füllt das Profil unserer Reifen. Schmatzend fahren wir weiter und erreichen abends Mengla, wo wir die Nacht verbringen wollen. Die auf der Karte scheinbar kleine Ortschaft entpuppt sich als ansehnliche Stadt! Nun heisst es, ein Hotel finden: In China müssen wir offiziell jede Nacht registriert werden. Nicht jede Unterkunft kann uns jedoch im Polizeisystem eintragen. Erkennen, welche Hotels diese Möglichkeit bieten, tut man aber nicht. Wir werden fündig und erklären mit dem Übersetzungsprogramm auf dem Telefon unsere Situation. Wir sind noch unerfahren mit der App und das chinesisch ist wohl nur mittelmässig verständlich. Am Ende sind wir uns nicht sicher, ob das mit der Registration geklappt hat.
Aber egal, wir sind hungrig und machen uns auf die Suche nach unserer ersten chinesischen Mahlzeit. Auf dem Markt reiht sich ein halboffenes Restaurant ans Andere. Es winkt uns ein Besitzer lächelnd zu sich und kurz später stehen wir vor einem riesigen Kühlschrank. Durch die Glastüre sehen wir die grosse Auswahl: Im Angebot sind Blumenkohl, Karotten, Aubergine, Tofu und andere Pilze, eine ganzes Tablar an Kräutern und zuunterst Fleisch und Fisch gehackt oder in grossen Stücken. Auf einem Teller erblicken wir dann auch noch Frösche und eine Ente. Freunde haben uns von diesen Restaurants erzählt und sozusagen eine Bedienungsanleitung geschildert. Zum Glück, denn der Koch steht bloss lächelnd da und wartet auf unsere Bestellung. Wir zeigen also auf die Zutaten, die uns dann zu einem Gericht gekocht werden sollen. Bei Einigen schaut uns der Besitzer fragend an oder schüttelt den Kopf. Wir verstehen nicht, aber gut, dann nehmen wir halt etwas anderes. Es ist ein lustiges Erlebnis und nach wenigen Minuten sind Auberginen, rotes Fleisch, Tomaten und Chinakohl ausgewählt. Mit einer Kanne Tee warten wir gespannt auf unser Menü. Dann trifft uns fast der Schlag: Anstelle eines Gerichts mit all unseren gewählten Zutaten, kommt ein Gericht pro Zutat! Damit haben wir nicht gerechnet. Unser Tisch füllt sich also und bald stehen drei herrlich duftende Platten, ein Topf Tomatensuppe und eine Schale Reis vor uns. Am Nebentisch schaut man uns amüsiert und neugierig zu. Die vier Personen haben etwa gleich viele Gerichte vor sich stehen wie wir zu zweit… Wir schlemmen und schaffen es dank unserem Velohunger alle Teller leer zu essen. Mmmmh, das war fein!

Auch heute starten wir auf der Autobahn. Die gleichmässige Steigung und höhensparende Tunnels sind verlockend. Doch ebendiese entpuppen sich abermals als unbelüftet und unbelichtet. Die Lastwagen überholen uns brausend und laut hupend. Es dröhnt laut und wir zucken jedes Mal zusammen. Das T-Shirt haben wir uns über die Nase gezogen um uns etwas vor dem aufgewirbelten Staub und den Abgasen zu schützen. Die Luft sticht beim Einatmen in der Lunge. Wir sind froh, als wir endlich die 3km hinter uns gebracht haben und schwören uns, fortan die Schnellstrasse zu meiden! Die Nebenstrasse entpuppt sich zudem als wunderschön. Sie führt durch einen der grössten Nationalparks Chinas. Langsam schlängelt sich die Strasse den Dschungel hoch. Wir geniessen das Surren der Insekten und Pfeifen der Vögel. Es ist wie in einer anderen Welt – hier, nur 200m vom stinkenden und lauten Verkehr entfernt. Beim «Wild Elephant Park» nach Jinuoshan ist es dann vorbei mit der Ruhe: Zig Busse füllen die Parkplätze bis auf das letzte Feld und so wird auch noch auf der Strasse parkiert. Überall wuseln Menschen umher. Mit Megaphonen werden die chinesischen Reisegruppen durch den Nationalpark geführt. Eine Seilbahn bringt sie auf einen Hügel und zum Elefantenreiten. Wilde Elefanten sehen wir natürlich keine. Dafür aber mit grossen Schildern unverkennlich markierte Trampelpfade, die wohl von den Dickhäutern benutzt werden. Dahinter Stallungen für die im Park angestellten Tiere. Nationalpark im chinesischen Stil…

Tee-Haine lösen nun die Bananenplantagen ab. Ganze Hügel sind voller Terrassen mit den grünen, etwa bauchnabelhohen Büschen. In langen Linien sind sie durch die Gegend gezogen. Ein eindrückliches Bild! Die Einfahrt nach Dadugan ist dann wie bei so manch anderem Ort eher hässlich. Links und rechts der Strasse wird bei ein paar Hütten der Abfall gesammelt und die Wasserkanäle sind mit einer stinkenden Kloake gefüllt. Das Leben findet hier wie in Südostasien draussen statt. Überall wird gewerkelt und dies vorzugsweise auf dem Trottoir: Da schweisst einer ein neues Geländer, da wird in einem Becken Geschirr gewaschen, nebenan die Kleider. Der Coiffeursalon ist ebenso halboffen wie die Zahnarztpraxis. Vorbei am Feuerwerkskörpershop kommen wir ins Zentrum mit Markt und kaufen uns zum Zmittag Bananen und Dumplings (gedämpfte Teigtaschen gefüllt mit einer Fleisch- und Gemüsefüllung). Es finden jeweils 8 Stück in einem Topf mit Siebboden Platz. Diese werden zu hohen Türmen gestapelt und auf kochendes Wasser gestellt. Der Dampf zieht durch den Dumplingkamin und gart sie dabei.

Nach einer Abfahrt erreichen wir ein Tal, welches bis auf den letzten Quadratmeter bepflanzt ist. Grösstenteils wieder mit Bananen, es wachsen aber auch Chilis, Melonen, Gurken, Drachenfrüchte und Kaffee. Kurz nach Mittag erreichen wir Pu’er und erholen uns den ganzen Nachmittag. Der Kontrast zwischen Stadt und Land ist riesig. Vom so einfachen Landleben, wo Handarbeit zum Alltag gehört, zur lauten, funkelnden Stadt, wo man findet, was das (chinesische 😉 ) Herz begehrt. Westler haben wir seit der Grenze keine mehr gesehen und so erregen wir oft grosse Aufmerksamkeit. Interessiert werden wir von Kopf bis Fuss gemustert und bestaunt. Manchmal haben wir das Gefühl, es spricht sich rum, dass zwei Langnasen im Restaurant sitzen und dann kommen uns die Leute anschauen. 😉 Die Restaurantbesuche sind anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Meist sitzt man auf kleinen Schemeln um den Tisch und erhält gleich nach der Bestellung das Geschirr in Plastik eingeschweisst und eine Kanne Tee. Die anderen Gäste schmeissen den Plastik, Servietten und allfällige Essensreste wie Knochen einfach auf den Boden. Das gibt dann eine ziemliche Sauordnung, die aber nach jedem Gast sofort wieder weggewischt wird. Essen ist in China, wie so Vieles, eine laute Angelegenheit: Es wird hemmungslos geschmatzt, geschlürft und natürlich auch auf den Boden gespuckt.

Wir sind heute früh auf der Strasse, aber die Abzweigung, die wir nehmen wollen gibts nicht. Wir suchen, fahren hin und her und kommen dann über einen Dreckweg und durch enge Gassen doch noch auf die G213. In der zweiten Steigung überholt uns ein Velofahrer. Wenig später kommt er uns wieder entgegen und schlägt mit Pantomimen vor, zusammen Mittag zu essen. Im Tross geht’s nach Ninger. Wie auch wir es stets machen, läuft Shihuan direkt in die Küche und bestellt und bestellt… Auf der Liste sind bestimmt schon 10 Zutaten! Zum Glück gesellen sich bald der Bike-Shop-Inhaber der Ortschaft und der Shanghaier Eric zu uns. Letzterer spricht Englisch und fungiert als Übersetzer. Das Essen wird in die Tischmitte gestellt. Dann schöpft sich jeder was ihm beliebt auf den Reis in seinem Schälchen.
Die Region Pu’er ist chinaweit bekannt für ihren Tee und so gibt’s anschliessend das heisse Getränk im Velo-Shop. Das Aufgiessen des Tees ist eine uralte Tradition. Auf einem massiven Holztisch stehen die Zutaten bereit. Eine leichte Vertiefung in der Mitte bildet eine Art Bassin. Darin hocken vier Porzellanfiguren: Ein Wasserbüffel, eine Kröte und zwei Menschen. Sie sollen für Glück sorgen. Das Geschirr wird mit heissem Wasser ausgespült und vorgewärmt. Danach wird das Wasser über die «Haustiere» gegossen, um auch sie zu reinigen. Der Tee ist zu einer Platte gepresst und in einer Papiertüte verstaut. Es wird ein kleines Stück abgebrochen und in eine farbig verzierte Keramikschale gegeben. Dann mit Wasser übergossen. Es färbt sich sofort gelb. Nur kurze Zeit später bleiben die Teeblätter im Sieb hängen, während der Tee in einen doppelwandigen Glaskrug umgeleert wird. Die Porzellanfiguren werden abermals begossen. Schliesslich werden unsere Mini-Tässli gefüllt. Der Tee hat einen extrem intensiven Geschmack. Mehrmals wird er aufgegossen und unsere Schälchen wieder aufgefüllt. «Wir befinden uns hier auf der sogenannten Tee- und Pferdestrasse», erklärt uns Eric. Dieses ausgedehnte Wegenetz hat die bedeutenden Teeanbaugebiete in den Provinzen Yunnan und Sichuan mit dem tibetischen Hochland verbunden. Während der im südlichen Teil Yunnans wunderbar gedeihende Tee nach Tibet gebracht worden ist, sind Salz und Pferde nach Yunnan transportiert worden. Nach traditioneller Herstellung werden die Blätter des Qingmao-Baumes gedämpft und in Fladen-, Ziegel-, oder Kugelform gepresst. Diese Formen seien praktisch zum Transportieren. Anschliessend wird der Tee getrocknet und mindestens 5 Jahren gereift. Dabei verändert sich dank zahlreichen Mikroorganismen der Geschmack. Wie beim Wein gilt auch beim Pu’er-Tee: Je älter desto besser.

Weiter geht es nordwärts. Die tropische Hitze der vergangenen Monate lässt von Tag zu Tag nach. Nun dominiert der Getreideanbau und gibt eine willkommene Abwechslung: Ins rot-grüne Landschaftsbild mischt sich jetzt noch gelb ein. Nachdem wir in Südostasien vier Monate lang nur grün gesehen haben, eine richtige Augenweide. 🙂 Zum Frühstück gibt es heute Bananen und Hefeteig-Gebäck. Mmmmh, einfach köstlich nach so langer Zeit Brotabstinenz.
Wir kommen in ein Tal mit einem breiten Fluss. Alle paar Kilometer baggert eine Maschine Sand aus dem Flussbeet; das Wasser ist durchgehend braun und trüb. Es vergeht sowieso kein Tag, an dem wir keine Baumaschinen sehen: Da entsteht eine breite Autobahn, dort eine neue Lagerhalle, hier eine riesige Siedlung. Wir haben den Eindruck, als liessen die Chinesen keinen Flecken Natur in Ruhe. Als seien Landschaftsbild und Umweltschutz hier Fremdwörter.

Ausgangs Zhenyuan ist die Strasse gesperrt. Sie ist aber die einzige Verbindung zum heutigen Etappenziel. Also ignorieren wir die winkenden Bauarbeiter und fahren an der Absperrung vorbei. Erst ist der Belag einfach nur schlecht, doch dann steht ein Bagger mitten auf der Strasse. Anstatt Strasse ist da jetzt ein tiefes Loch! Wir schlängeln uns am Rande über die Steinbrocken vorbei und gelangen nach kurzer Zeit auf die asphaltierte Strasse zurück. Es sieht so aus, als ob von dieser Sperre nur die Dorfbewohner etwas wüssten; die haben nämlich ihre Essstände am Wegrand aufgestellt und dürfen bereits die ersten wartenden Autofahrer ihre Kunden nennen. Wir fahren den ganzen Tag durch ein stark bewirtschaftetes Tal. Es wird gerade fleissig ausgesät und sieht nach viel Handarbeit aus. Überall blühen die Obstbäume in frühlingshaftem Rosa und Weiss. Es geht vorbei an grossen Ziegelbrennöfen, Lehmhäusern, auf deren Balkon das Fleisch oder Maiskolben zum Trocknen aufgehängt sind und an weiss verputzten Häusern mit blau-schwarzen Bemalungen. Wir spüren die vergangenen strengen Tage in den Beinen und die hügelige Strasse will kein Ende nehmen. In Jingong strampeln wir quer durch die Stadt. Wir hätten gerne ein Hotel an verkehrsarmer Strasse, damit es nicht so laut ist. Wir werden fündig, schauen uns Zimmer an, verhandeln den Preis, packen alle Taschen ab und werden plötzlich mit einem «mei you» (in diesem Fall soviel wie, «ihr dürft doch nicht hier schlafen») weitergeschickt. Nachdem sich diese Geschichte wiederholt, müssen wir erstmal unsere Energiereserven auffüllen. Da helfen ein paar Dumplings, die wir bei einem Strassenstand erstehen. Dann fahren wir zur grossen Strasse und zum einzigen auf unserer Karte eingezeichneten Hotel. Und siehe da, dies scheint die richtige Strategie zu sein: Hier dürfen sie uns beherbergen!

Mit einer Suppe zum Frühstück starten wir in den heutigen Tag. Die gibt es im offenen Restaurant um die Ecke. Es ist nicht viel mehr als eine Garage; blaue Plastikstühle stehen an den kleinen Tischchen. Darauf gibt es Essig und eine Chilisauce zum Nachwürzen sowie Stäbchen. An der Wand hängt das Menü und ein Plakat des Hygieneamtes. Ein Smiley zeigt die Note. Meist weint es, wenn man Glück hat, so schafft es einen gleichgültigen Ausdruck. Die Lachenden sind, so scheint es, den teuren Restaurants vorbehalten. Oder denen, die ihr Weinendes einfach überklebt haben. Hinten im Raum sieht man in die Küche. Überall stehen Töpfe und Zutaten, Öl gibt es in 10L-Flaschen. Der Suppentopf steht dampfend zuvorderst an der Strasse, sodass man das Restaurant gut erkennen kann. Hier im Yunnan wird die Suppe als Bausatz angeboten: Aus dem Topf kommen nur Nudeln und die Bouillon, danach nimmt man seine Schale zum separaten Tisch, wo man die Suppe mit weiteren Zutaten wie Kräutern, Frühlingszwiebeln, Sesam und vielen Saucen nach belieben verfeinern kann. Wir haben keine Ahnung, was wie schmeckt und es kommt oft vor, dass uns die Köchin beim Auswählen und vor allem beim Dosieren hilft.

Unterwegs finden wir eine Konditorei, wo es für wenig Geld herzhafte Kuchen und feines Gebäck gibt. Sabine würde am liebsten die Backstube stürmen und mithelfen. 🙂
Hier durchfahren wir immer wieder kleine Dörfer die von der Landwirtschaft leben. In einem werden wir mit einer unkonventionellen Art des Korn-Dreschens bekannt gemacht: Das Getreide wird auf der Strasse ausgelegt und man lässt die Autos darüber fahren. Nach dem Zmittag passieren wir Erdbeerfelder und kaufen einen Sack der super süssen Beeren. Sie geben uns Energie und Motivation, um dem Gegenwind zu trotzen.

In Weishan gönnen wir uns einen Ruhetag. Die restaurierte Altstadt hat ihre Ursprünge im 7. Jahrhundert, als sie zur Zeit des Nanzhao Königreich gegründet worden ist. Im 8. und 9. Jahrhundert war hier ein wichtiger und wohlhabender Handelsplatz. Als erstes entdecken wir das Nord-Tor. Es steht auf einem grossen Platz und ist das Zweitgrösste Chinas. Es stellt ein imposantes Mauerwerk dar, welches den Eingang zur Altstadt bildet. Ein Pavillon im chinesischen Stil steht oben drauf.
Mit dem Untergang des Nanzhao Königreiches hat Weishan zunehmend an Wichtigkeit verloren und erst wieder im 14. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen, als es zu einem militärischen Aussenposten für die Ming-Dynastie geworden ist. Die mit Pflastersteinen besetzte Strasse, die von Nord nach Süd führt, wird mit jahrhundertenalten Häusern gesäumt. Sie sind aus einem Materialmix aus Holz, Lehm- und Dreckziegel gebaut. Zudem sind sie reich an Details: Geschnitzte Holztüren und -balken, mit einfachen Mustern bemalte Wände und Ziegel mit verzierten Abschlüssen zum Dachrand hin. Neben einigen teuren Cafés und wenigen Souvenirshops finden sich noch immer viele lokale Geschäfte, wie Coiffeursalons oder Nudelhersteller, in der Altstadt. Einheimische treffen sich hier auf einen Tee zu Brett- oder Kartenspielen.

Ca. 25km nördlich von Weishan machen wir einen Abstecher nach Dong Lian Hua. Das muslimische Dorf hat sich herausgeputzt. Neben einer faszinierenden Moschee aus Holz in seiner Dorfmitte, bestaunen wir schön bemalte Fassaden, aus Holz geschnitzte Türen und grosszügige Innenhöfe.
Dali lassen wir links liegen, da wir das Ostufer des Erhai-Sees fahren wollen. Schöne Abschnitte wechseln sich mit vielen Bauruinen und Luxushotels ab. Die Überwachung nimmt ein extremes Ausmass an: Während normalerweise bei jeder Ortsein- und Ausfahrt ein Foto von jedem Verkehrsteilnehmer geschossen wird, steht hier ca. alle 500m eine Kamera. Viele chinesische Touristen umfahren den See auf Motorrädern, Quads oder Elektroscootern. Letztere sind aber zu schwach für zwei Passagiere und müssen reihenweise die Hügel hochgeschoben werden. 😉 Der See ist eine beliebte Fotokulisse für Hochzeitsbilder. Überall werden die schön zurechtgemachten Paare geshootet. Pro Brautpaar gibt es einen Fotografen, mindestens einen Blitz-Gehilfen, eine Frau, die für die Braut zuständig ist, sowie einen Fahrer. In einer Bucht, die wir als unseren Übernachtungsplatz auserkoren haben, wimmelt es nur so von Paaren. Und: Die Mädels in ihren langen weissen Hochzeitskostümen haben Ausdauer. Beim Eindunkeln um halb acht Uhr fährt endlich das letzte Auto weg und wir geniessen den Abend direkt am See.

Bei Nuijie nehmen wir eine kleine Strasse über den Hügel. Hier fehlt die Überwachungskamera, dafür stehen 3 Männer am Strassenrand und man muss sich in eine Liste eintragen. Unter die chinesischen Zeichen kritzeln wir: «Sämy & Sabine»; die Passnummer wissen wir gerade nicht auswendig; Zeit: «09:15». Das sollte reichen. Die Männer nicken zufrieden. Zuerst steigt die Betonplatten-Strasse ganz schön steil, dann flacht sie aber ab und wird zur Dreckstrasse. Es ist ein wunderschöner Abschnitt ohne jeglichen Verkehr. Natur pur. 🙂 Die Abfahrt führt durch dichten Kiefernwald, der mit lila Blumen durchsetzt ist. Sie ist erst holprig, dann sausen wir abermals auf Betonplatten durch die leuchtend gelben Rapsfelder nach Shaxi ein.

Shaxi hat eine ähnliche Geschichte wie Weishan und ebenfalls eine schöne Altstadt zu bieten. Sie ist uns allerdings etwas zu touristisch. Wir treffen auf ein paar Westler – die Ersten seit langer Zeit. Ihnen scheint das genauso zu gehen und wir fühlen eine seltsame Verbundenheit. Wir grüssen uns.

Nach einer langen Etappe schlagen wir unser Zelt kurz vor dem Eingang zur Tiger-Sprung-Schlucht am Ufer des Jangtse auf. Der Wecker klingelt heute früh: Um 04:30 Uhr stehen wir auf. Wir wollen die Schlucht durchqueren und schaffen es vor Öffnung des Ticketschalters einzufahren, ohne den saftigen Eintrittspreis bezahlen zu müssen. Wir legen uns neben der Strasse nochmals schlafen bis es hell ist und fahren dann gemütlich die spektakulären 15km. Immer wieder blicken wir steil runter zum rauschenden Jangtse oder rauf zu den schneebedeckten Bergen. Angeblich ist sie mit einem Höhenunterschied von 3’900m die tiefste Schlucht der Welt; und nach dem Nil und dem Amazonas ist der Jangtse mit 6’380km der drittlängste Strom der Erde. Der Legende nach soll ein Tiger den Jangtse an seiner engsten Stelle über einen Felsblock in der Flussmitte mit zwei Sprüngen überwunden haben. Dabei hat er seinen Jäger abgehängt und der Schlucht ihren Namen gegeben.
Das Wetter ist verhangen und der Wind bläst uns kalt um die Ohren. Am Ende des Einschnitts ist der Blick vom Fluss zu den Gipfeln nochmals spektakulär. Wir können uns kaum satt sehen an den hohen Bergen, die wir in Südostasien so vermisst haben!

Der Nebel hängt kurz nach Haba immer noch tief, doch auf der anderen Seite des Passes ist das Wetter dann freundlicher und wir geniessen die Fahrt durch herzige Bauerndörfer und imposante, in Terrassen angelegte Felder. Es riecht fein nach Getreide und Raps. Hin und wieder zeigt sich ein schneebedeckter 5000er. Wir kommen am Mittag in Bai Shui Tai an und während Sämy das Velo wartet, nimmt es Sabine gemütlich und schläft etwas in der warmen Sonne. Später besuchen wir die beeindruckenden Kalkwasserbecken. Gerade wird ein neues Besucherzentrum gebaut: Eine Anlage mit etlichen Parkplätzen und künstlichen Becken, die grösser sind als die Natürlichen. Ganz im chinesischen Stil. Mit den letzten Sonnenstrahlen und einigen mit profimässiger Fotoausrüstung ausgestatteten Chinesen geniessen wir die farbigen Becken. Grün, türkis und gelb schimmert das Wasser in den schneeweissen Bassins, die stufenweise übereinander liegen. Für die hier lebende Naxi-Minderheit sind die Becken ein heiliger Pilgerort. Als wir auf die Hauptstrasse zurückkommen, werden vor einem Schrein gerade Hühner geopfert. Es wird ihnen die Kehle aufgeschlitzt und ihr Blut in eine Schale gegossen. Das noch zuckende Huhn wird danach einfach in einen Eimer geworfen…

Die Fahrt durch die Nadelwälder ist wunderschön. Unglaublich, wie viele Bäume hier auf einer Höhe von knapp 4’000 m.ü.M. wachsen. Kurz vor dem Pass suchen wir bei ein paar Stallungen Schutz, essen Nudelsuppe und schauen dem Schneegestöber zu.
Auf der anderen Seite des Passes befinden wir uns in einer anderen Welt: Auf den kargen Wiesen weiden neben Pferden und Schweinen nun auch zottelige Yaks, Kartoffeln werden in den Boden gesetzt und bunte Gebetsfahnen flattern im Wind. Ausser den 4-5 Strommasten-Linien, die typisch für China sind, erinnert uns das Tal stark an Kirgistan. Hier beginnt das Gebiet der Kham-Tibeter. Meist sind ihre riesigen Häuser umgeben von einer hohen Mauer, sodass wir nur den oberen Stock und das Dach sehen. Manchmal können wir einen Blick durch das Tor erhaschen oder bei den Baustellen die Bauart beobachten: Im unteren Stock, der etwa zwei Etagen hoch ist, werden dicke Baumstämme als Säulen verwendet, dazwischen wird Lehm mit Holzstösseln zu Wänden gepresst. Hier wird das Vieh untergebracht. Darauf kommt ein Stock wo die Leute leben; ein Plumpsklo klebt an der Aussenwand in 6m Höhe. Dann eine halb-offene Etage wo Heu oder die Ernte getrocknet wird. Das Holz der Trägerbalken ist mit detaillierten Mustern geschnitzt und zum Teil sogar farbig bemalt. Ein echtes Kunstwerk!

Den ganzen Tag ist das Wetter wechselhaft und winterlich kalt. Wir sind froh, in Shangri-La (Dêqên) anzukommen. Bis im Jahr 2001 hat die hauptsächlich von Tibetern und Naxi bewohnte Stadt «Zhongdian» geheissen. Als die Regierung das Fällen der Bäume verboten hat, hat sich diese Stadt eine neue Einnahmequelle suchen müssen. Die Lösung schien im Tourismus zu liegen: Das tibetische Viertel ist in eine attraktive Altstadt verwandelt und der Ort nach dem fiktiven, buddhistischen Paradies in James Hilton’s Roman «Der verlorene Horizont» umbenannt worden. Im Januar 2014 sind etliche Holzhäuser der Stadt einem Feuer zum Opfer gefallen. Die Regierung hat gehalten, was sie versprochen hat und der Wiederaufbau scheint beinahe abgeschlossen. Hätten wir nichts vom Feuer gewusst, hätten wir vielleicht nicht bemerkt, dass wir in einer der neuesten Altstädte der Welt stehen.

Wir finden ein gemütliches Hotel neben einer Bäckerei, wo wir natürlich sogleich einkaufen. Später holen wir uns noch ein paar Dumplings gegenüber. Nach der heissen Dusche schlüpfen wir müde unter die schwere Decke, schalten die Wärmematte ein und kommen bis zum nächsten Morgen nicht mehr aus dem Bett.

1 thought on “Im Schnellzug durch die Jahreszeiten: China, Teil I (13. März – 2. April 2017)”

  1. Hoi zäme, sehr wahrscheinlich sind wir schon aneinander vorbei gefahren. Ich bin momentan in Dunhuang. Fahre danach aber weiter nach Osten in Richtung Peking. Viel Spass noch!
    David

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